Zur Geschichte

Die Magdeburger Domschule im frühen Mittelalter

Die Anfänge der Magdeburger Domschule reichen zurück bis in das zehnte Jahrhundert. Ein Jahr nach seiner Königskrönung, im Jahre 937, gründete Otto I. in Magdeburg ein Kloster, das er dem besonderen Schutz des Heiligen Mauritius unterstellte. Otto berief zwölf Mönche aus dem angesehenen Trierer Kloster St. Maximin, die die Aufbauarbeit in Magdeburg zu leisten hatten. Der König selbst stattete das Kloster mit reichen Schenkungen aus. Die ersten Magdeburger Äbte genossen sein besonderes Vertrauen; das erkennt man vor allem daran, daß er sie auf Bischofssitze seines Reiches beförderte und sie somit zu Ratgebern und Helfern seiner Po litik machte. Der erste Abt Anno wurde im Jahre 950 Bischof von Worms, sein Nachfolger Otwin wechselte 954 auf den Hildesheimer Bischofsstuhl.

Dem Moritzkloster war bereits früh eine Klosterschule angegliedert, um die sich auch die Äbte selbst sorgfältig kümmerten. So wissen wir beispielsweise von Abt Otwin, daß er stets darum bemüht war, das Kloster und seine Schule mit wissenschaftlichen Büchern, d. h. mit theologi schen und philosophischen Schriften auszustatten. Als es Otto im Jahre 968 nach langjährigem Widerstand aus den Reihen der ostfränkisch-deutschen Bischöfe und nach zweimaligem Scheitern seiner Pläne endlich gelang, Magdeburg zum Erzbistum zu erhöhen, wurde die ehe malige Klosterschule in eine Domschule umgewandelt. Die Magdeburger Kathedralschule ent wickelte sich schnell zu einem geistigen und kulturellen Zentrum im östlichen Sachsen des frü hen Mittelalters. Ihre wichtigste Aufgabe bestand in der Ausbildung des Diözesanklerus, aus dem sich die Geistlichen und die Bischöfe der sächsischen Bistümer rekrutierten. So besuchten beispielsweise die Bischöfe Wigbert von Merseburg, Thietmar von Merseburg und Eid von Meißen die Domschule in Magdeburg. Die Tat sache, daß beispielsweise auch Bischof Suidger von Münster (Westfalen) Absolvent der Mag deburger Domschule war, spricht für den weit reichenden Einfluß dieser mittelalterlichen Bil dungsinstitution. Des weiteren bot sie Söhnen aus adligen Familien, die dann oftmals als Mit glieder im Domkapitel verblieben, eine angemessene und standesgemäße Ausbildung.

Ihren hervorragenden Ruf hatte die Magdeburger Domschule in erster Linie ihrem Leiter Ohtrich zu verdanken (nach ihm ist heute in Magdeburg die Othrichstraße, eine Nebenstraße des Olvenstedter Grasewegs, benannt). Seit etwa 950 ist er als Leiter der Klosterschule bezeugt; 968 wurde er der erste Domscholaster (Leiter der Domschule). Seinen Zeitgenossen und Mag deburger Schülern galt er aufgrund seiner Rede gabe und seiner hohen Bildung als ein „zweiter Cicero“. Daß er weit mehr als ein bloßer „Pro­vinzgelehrter“ war, beweist der Umstand, daß er mit Gerbert von Reims, der den Zeitgenossen als der größte Gelehrte des zehnten Jahrhunderts galt und im Jahre 999 als Silvester II. den päpstlichen Stuhl in Rom bestieg, konkurrieren konnte. In Anwesenheit Kaiser Ottos II. hielten beide eine Disputation (Streitgespräch) über die richtige Einteilung der Wissenschaften – strittig war hier bei vor allem der Stellenwert der Mathematik und der Physik. Daß Ohtrichs Ruf und Wissen auch über Magdeburgs Grenzen hinausgetragen wurden, dafür sorgten seine Schüler. So wissen wir beispielsweise, daß der Magdeburger Domschüler Thiadelm in den 60er Jahren des zehnten Jahrhunderts Leiter der Bremer Domschule war – nach Magdeburg bot Bremen im gesamten nördlichen Raum des ostfränkisch-deutschen Reiches die einzige Schule von Rang und Namen. Adam von Bremen, der im elften Jahrhundert eine viel gelesene Bremer Kirchengeschichte verfaßte, betont, daß der gute Ruf der Bremer Domschule vor allem darauf zurückzuführen sei, daß ihr Vorsteher Thiadelm zu den Schülern „des großen Magdeburger Ohtrich“ gehört hatte.

Wer zu Ohtrichs Zeiten die Magdeburger Kathedralschule besuchte, durfte demnach sicher sein, die für damalige Zeiten bestmögliche Ausbildung zu erhalten. Den Fächerkanon bildeten die septem artes liberales, die „Sieben freien Künste“ („frei“ deshalb, weil sie als die eines freien Menschen würdigen Wissensgebiete galten, in denen sich ein Gebildeter auskennen mußte). Im einzelnen gehörten zu den „Sieben freien Künsten“ die vier Fächer des Quadrivi ums (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) sowie die drei Fächer des Triviums (Grammatik, Rhetorik und Dialektik – wenn wir heute eine Sache als „trivial“ bezeichnen, so liegt dem die Vorstellung zugrunde, daß die eher literarischen Fächer des Triviums im Ver gleich zu den Fächern des Quadriviums als einfacher galten). Außerdem gehörte zum Lehrstoff der mittelalterlichen Domschule die Lek türe der Heiligen Schrift und anderer theologischer Werke sowie die Übung im Kirchengesang.

Großen Wert legte Ohtrich auf die lateinische Sprache; in seinem Unterricht durfte denn auch nur lateinisch gesprochen werden. Sollte einer der Domschüler gegen diese Regel verstoßen, drohte die Prügelstrafe des strengen Domscholasters. Einer der berühmtesten Schüler Ohtrichs hat das am eigenen Leib gespürt – gemeint ist Adalbert von Prag. Aus einer böhmischen Adelsfamilie stammend erhielt er neun Jahre lang in Magdeburg seine geistige und geistliche Ausbildung, um dann anschließend den Bischofsstuhl in Prag zu besteigen. Die weiteren Sta tionen seines Lebens führten ihn über Rom in den Osten Europas, wo er als Missionar den Märtyrertod erlitt. Heute gilt er in Polen als Nationalheiliger und kirchliche Identifikationsfigur. In unseren Zeiten eines zusammenwachsenden Europas wird ihm die Funktion eines geistigen Brückenbauers zwischen dem Westen und dem Osten Europas zugeschrieben.

Ohtrich verließ im Jahre 978 die Magdeburger Domschule und wechselte über in die Hofkapelle Kaiser Ottos II. (nach heutigem Verständnis würden wir sagen, er wurde „leitender Be amter in der Staatskanzlei“). Man kann hier an Ohtrichs Beispiel erstmals beobachten, was sich dann bei nicht wenigen seiner Nachfolger bewahrheiten sollte: das Amt des Domscholasters war für viele ein „Sprungbrett“ für eine höhere Karriere. Und auch Ohtrich durfte sich 978 größere Hoffnungen machen; möglicherweise war er Kandidat für das Erzbischofsamt der Magdeburger Kirche. Das muß auch der noch amtierende erste Magdeburger Erzbischof Adal bert (nicht zu verwechseln mit dem jüngeren, oben bereits erwähnten Adalbert von Prag) geahnt haben. Jedenfalls mahnte er die Magdeburger eindringlich davor, daß sie niemals Ohtrich zu seinem Nachfolger wählen dürften – diese Warnung läßt auf ein spannungsreiches Verhält nis zwischen Erzbischof und ehemaligem Domscholaster schließen. Wie dem auch sei – als 981 nach Adalberts Tod tatsächlich die Nachfolgefrage in Magdeburg anstand, wählten die Magdeburger Domkapitulare trotz der Warnungen Adalberts Ohtrich zu ihrem neuen Erzbischof. Das beweist, welches Ansehen der ehemalige Domschulleiter genoß. Die Magdeburger schickten eine Gesandtschaft an den kaiserlichen Hof, um von Otto die Bestätigung ihres Wahlaktes zu erreichen und um Ohtrich, der ja am Hof des Kaisers weilte, über das für ihn freudige Ergebnis zu informieren. Otto II. befand sich gerade in Italien. Als die Gesandten ihn erreichten, kam dann aber alles anders als geplant: dem Merseburger Bischof Gisilher gelang auf dubiose und wohl auch intrigante Weise, den Kaiser umzustimmen: sein Merseburger Bistum wurde aufgelöst, so daß er selbst auf den Magdeburger Erzbischofsposten befördert werden konnte. Oh trich ging leer aus. Im übrigen hat der erste Magdeburger Domscholaster das Jahr 981 auch nicht überlebt. Voller Gram aufgrund der Wahlniederlage, aber auch voller Reue und Selbst vorwürfe ob seines so großen Ehrgeizes – kurz vor seinem Tode machte er sich Vorwürfe, er habe Magdeburg mit allzu hohen Erwartungen verlassen – schied er noch im selben Jahr aus dem Leben.

In Ohtrich begegnet uns nicht nur der erste Domschulleiter, sondern auch der, über den wir am besten informiert sind. Über seine Nachfolger fließen die Information aus den Quellen nur recht spärlich, oft kennen wir gerade einmal ihre Namen. So zum Beispiel Ekkehardus Rufus („Ekkehard der Rote“ bzw. „der Rothaarige“), der Ohtrichs direkter Nachfolger als Domscholaster wurde. Gerühmt wurde er als gelehrter Grammatiker, unter dem die antike Literatur besonders gepflegt wurde. Unter ihm wahrte die Magdeburger Domschule ihren guten Ruf, den sie sich unter Ohtrich erworben hatte, bis Ekkehard dann Opfer eines Unfalls wurde – der Hochaltar der Kirche stürzte auf ihn nieder, als er ihn inspizierte – und zwischen 995 und 1002 verstarb (genauer läßt sich das Jahr nicht bestimmen, wohl aber kennen wir aus dem Eintrag eines To­tenbuches den Todestag, nämlich den 4. September).

Ekkehards Nachfolger als scholae magister wurde Geddo. Er stieg später auf zum Vermögensverwalter der Magdeburger Kirche. Berühmter als der Domscholaster Geddo waren zwei seiner Schüler, nämlich Brun von Querfurt und Thietmar, der spätere Bischof von Merseburg. Bruns Lebenslauf weist viele Parallelen zu dem des oben schon genannten Adalbert von Prag auf. Nach seiner Schulzeit verblieb er zunächst als Domherr in Magdeburg, verfaßte hier eine Lebensbeschreibung des von ihm verehrten Märtyrers Adalbert, zog dann wie dieser als Missionsbischof aus und erlitt im Jahre 1009 den Märtyrertod. Man sieht an Adalberts und Bruns Schicksal, daß das Erzbistum Magdeburg und damit auch seine Domschule eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Pflanz- und Ausbildungsstätte mittelalterlicher Missionare war, denen die Christianisierung weiter Teile der Elbslawen oblag.

Thietmar, der zweite berühmte Domschüler aus Geddos Zeiten, stammte aus der Familie der Grafen von Walbek. Nach seiner Ausbildung trat er in das Magdeburger Domstift ein und wurde schließlich 1009 zum Bischof von Merseburg bestimmt. Seine von Heinrich I. bis zu Heinrich II. reichende (und somit die gesamte Ottonenzeit umfassende) Chronik in acht Büchern zählt zu den bedeutendsten Werken der mittelalterlichen Geschichtsschreibung; ohne ihre Kenntnis wäre unser Wissen um die Geschichte des deutschen und polnischen Mittelalters um vieles ärmer und lückenhafter. Ein Blick in die Werke Thietmars von Merseburg und Bruns von Querfurt erlaubt Rückschlüsse auf Inhalte des damaligen Domschulunterrichts. Zahlreiche Zitate lateinischer Autoren lassen erahnen, welche Schriftsteller unter Ekkehard und Geddo gelesen wurden. So finden sich zahlreiche Belege für Horaz, aber auch für den Komödien dichter Terenz so wie für Vergil, Lucan, Ovid, Persius, Iuvenal und Statius; die Belege für Macrobius beweisen, daß die Domscholaster auch die Philosophie in den Kanon der Fächer einbezogen.

Als letzter namentlich bekannter Domscholaster des elften Jahrhunderts sei noch Meginfried erwähnt, der auf Geddo folgte. Zu seinen Schülern und Vertrauten zählte Arnold, ein Mönch aus St. Emmeran bei Regensburg. So ist auch zu erklären, daß Meginfried als Verfasser einer Lebensbeschreibung des heiligen Emmeran auftritt – im Prolog der Vita bezeichnet sich der Verfasser als „Parthenopolitanus magister et prepositus“ (Magdeburger Domscholaster und Propst). Die Vita verfaßte er wohl in den zwanziger Jahren des elften Jahrhunderts, er lebte wohl noch bis etwa 1060. Ein weiterer Schüler Meginfrieds, Günther, amtierte von 1079 bis 1089 als Bischof von Naumburg.

Mit Meginfrieds Amtszeit haben wir bereits den Vorabend des Investiturstreits erreicht, in dem die Magdeburger Erzbischöfe wie überhaupt die sächsischen Großen in Opposition zum salischen Königshaus traten. Die nun einsetzende, von Sachsenkriegen und innerkirchlichem Streit geprägte Zeit ließ den Erzbischöfen kaum Gelegenheit, sich um innere Angelegenheiten ihrer Diözese zu kümmern und war auch der Entwicklung der Domschule nicht förderlich. Das aus gehende elfte und das beginnende zwölfte Jahrhundert sahen dann auch den Niedergang der Magdeburger Kathedralschule. Erst im weiteren Verlauf des zwölften Jahrhunderts erlebte die Domschule wieder bessere Zeiten. Dabei waren es stets herausragende Erzbischöfe, unter de nen herausragende Domscholaster wirkten: so zum Beispiel Boso unter Erzbischof Norbert von Xanten oder Ludolf unter Erzbischof Wichmann. Nicht minder berühmt war Gernand, dessen Gelehr samkeit und Bildung im frühen 13. Jahrhundert für einen regen Zulauf zur Mag deburger Dom schule sorgten und der im Jahre 1221 schließlich Bischof von Brandenburg wurde (ein weiteres Beispiel dafür, daß das Domscholasteramt für viele nur eine niedere Sprosse auf der Karriere leiter bedeutete). Doch an die Blützeit eines Ohtrich reichte von den letztgenannten niemand heran.

Manfred Nollmann

3/6: Quellen und Dokumente zu den Anfängen der Magdeburger Domschule